Anomie
Anomie bezeichnet in der Soziologie einen Zustand fehlender oder schwacher sozialer Normen, Regeln und Ordnung. Mit dem Wort Anomie wird eine gesamtgesellschaftliche Situation beschrieben, in welcher herrschende Normen auf breiter Front ins Wanken geraten, bestehende Werte und Orientierungen an Verbindlichkeit verlieren, die Gruppenmoral eine starke Erschütterung erfährt und die soziale Kontrolle weitgehend unterminiert wird. Vor allem in England war der Begriff ursprünglich ein theologischer Ausdruck für das Brechen religiöser Gesetze. Zur Beschreibung einer Anomie wird umgangssprachlich und irreführend häufig auch das Wort Anarchie (Abwesenheit von Herrschaft) benutzt.
Der Begriff der Anomie wurde von Émile Durkheim, der ihn den Schriften des Philosophen Jean Marie Guyau entlehnt hatte, in die Soziologie eingeführt. Er bezeichnet in seinem Gesellschaftsmodell den Gegenbegriff zum Zustand der organischen Solidarität, in dem sich Menschen trotz fortgeschrittener Arbeitsteilung mit dem gesellschaftlichen Ganzen und seinen Regeln identifizieren können.
Anomie im Sinne von Durkheim wird in neueren empirischen Untersuchungen als Orientierungs- und Regellosigkeit operationalisiert und unter anderem mit der Zustimmung zur Aussage erfasst, ob die Welt heute so kompliziert geworden sei, dass man sich darin nicht mehr zurechtfindet.
Der Rückgang von religiösen Normen und Werten führt nach Durkheim unweigerlich zu Störungen und zur Verringerung sozialer Ordnung. Aufgrund von Gesetz- und Regellosigkeit sei dann die gesellschaftliche Integration nicht länger gewährleistet. Anomie führt nach Durkheim beim Individuum zu Angst und Unzufriedenheit bis sogar zur Selbsttötung (anomischer Suizid). Durkheim benutzte den Begriff, um die pathologischen Auswirkungen der sich im Frühindustrialismus rasch entwickelnden Sozial- und Arbeitsteilung zu beschreiben.
Robert K. Merton hat dem Begriff 1949 eine leicht andere Bedeutung gegeben und ihn auf das Verhältnis zwischen kulturellen Werten und strukturellen Möglichkeiten bezogen. In seinem Sinne entsteht Anomie, wenn jemand ein gesellschaftliches Ziel anstrebt, aber nicht über die strukturellen Möglichkeiten verfügt, das Ziel auch zu erreichen.
In den letzten Jahren hat das Anomiekonzept, v.a. im Sinne von Durkheim, wieder eine zunehmende Bedeutung in der Gesellschaftsdiskussion erlangt und ist auch für die verschiedensten Lebensbereiche empirisch umgesetzt worden.