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Sozialpädagogik - stellvertretende Lebensräume


Was tun SozialpädagogInnen im Heimalltag? Diese Frage gab den Anstoss zu einem Forschungsprojekt an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Soziale Arbeit, St. Gallen, das an Tagungen in Rorschach und Zürich vorgestellt wurde.

SozialpädagogInnen wechseln häufig ihre Stelle. es fehlt an Wertschätzung für die Basisarbeit im Heimbereich und an professionellen Begriffen, ddie diese Tätigkeit angemessen beschreiben. Im Rahmen ihrer Forschungsarbeit haben FHS-Dozentin Prof. Dr. A. Wigger und ihre Mitarbeitenden sechs SozialpädagogInnen in einem Kindersonderschulheim, einger geschlossenen Jugendwohngruppe und in einem Heim für schwer behinderte Erwachsene fünf Tage lang begleitet, und sämtliche Tätigkeiten detailliert notiert. Entstanden sind rund 700 Seiten Tätigkeitsprotokolle samt Interviews und, als Folge der Auswertung, neue professionelle Kategorien und Begriffe für die berufliche Tätigkeit an der Basis.

Da sein für...
"SozialpädagogInnen inszenieren für und mit BewohnerInnen stellvertretende Lebensräume", fasst A. Wigger die Quintessenz der sozialpädagogischen Basistätigkeit zusammen. Das fängt beim Essen an, führt über Beschäftigung und Fürsorge und geht bis zur Raumpflege. Privater Lebensraum wird im Heim durch öffentlichen Lebensraum ersetzt. Der Heimalltag misst sich notgedrungen an einer Modellvariante privaten Alltags, er kann im Empfinden der Betroffenen aber niemals den privaten Alltag ersetzen. Selbst dann nicht, wenn der stellvertretende Lebensraum, real gesehen, mehr Lebensqualität bietet.
SozialpädagogInnen verbringen ihre Zeit nicht aus Liebe und Freundschaft mit den HeimbewohnerInnen. Sie werden für ihre Arbeit bezahlt. Nicht von den Betroffenen, sondern von ihren Auftraggebern.
Auf diesem Hintergrund gilt es, berufliche Nähe herzustellen. Die vielzitierte Forderung nach Abgrenzung löst bei der FHS-Dozentin inzwischen Skepsis aus. Sie spricht nicht mehr von "Nähe und Distanz", sondern von der Kunst, eine "berufliche Nähe" zu den Betroffenen aufzubauen. Dies im Unterschied zur privaten Nähe. "Das ist nur möglich, wenn ich aktiv an meiner Selbst- und Sozialkompetenz arbeite, und wenn ich mir darüber im Klaren bin, was die Betroffenen von mir erwarten." Dies schliesst auch deren Wunschphantasien mit ein.

Zuständig für den "Rest"?
Wie überall, haben auch in der Sozialpädagogik ExpertInnen Einzug gehalten. Wenn sie auf der Gruppe arbeiten, kümmern sich SozialpädagogInnen nicht einfach um den Rest, den PsychologInnen und TherapeutInnen nach ihrer Expertentätigkeit übrig lassen, auch wenn es nach aussen hin so erscheinen mag. Mit ihrer "Re-Aktiven Präsenz vor Ort" gestalten sie den Lebenraum vielmehr so, dass er für die Betreuten zum Zuhause wird. Vom frischen Frühlingsstrauss auf dem Tisch, dem "Fürsorglichen Strukturieren", bis hin zur Durchsetzung wichtiger Werte und Normen, dem "Alltäglichen Regulieren". Organisation und Betroffene sind auf diese "Re-Aktive Präsenz vor Ort" unmittelbar angewiesen. Weil sie aber so selbstverständlich ist, wird diese Form von Tätigkeit häufig gar nicht als Arbeit wahrgenommen.
Wei eher sicht- und überprüfbar sind Tätigkeiten, die A. Wigger mit den Begriffen "Trainieren fürs Leben oder Leben fürs Training" zusammenfasst: das kalkulierte Gestalten, das Fördern und Unterstützen unterschiedlicher Kompetenzen mittem im Alltagsgeschehen, das gemeinhin als das eigentliche Sozialpädagogische verstanden wird.

Emotionale Wechselbäder
SozialpädagogInnen bringen sich in der Arbeit mit den Betroffenen als Person ein. Was sie dabei konkret tun, umschreibt die Forschungsbeauftragte mit dem Begriff "Emotionale Dichte austarieren". Hier geht es darum, eigene und fremde Gefühlslagen wahrzunehmen, angemessen zu bewerten und ständig zu bearbeiten. Je nach Situation ist Respekt gefordert, Freundlichkeit oder Anteilnahme. In geschlossenen Institutionen erzeugen Macht und Gewalt, Anpassung und Widerstand, aber auch emotionale Bedürftigkeit ein dichtes emotionales Klima mit vielen Wechselbädern. Ganz andere Anforderungen stellt das Feld der behinderten Erwachsenen. Wie geht die SozialpädagogIn mit der körperlichen Nähe und der Übertretung von Intimitätsgrenzen in der Pflege um? Und wie reagiert jemand, wenn die gesuchte Nähe seitens der BewohnerIn als unangemessen empfunden wird? Besonderns im Vollzugbereich kommt es häufig vor, dass BewohnerInnen SozialpädagogInnen negativ bewerten. Diese müssen sich ihre berufliche Identität täglich so erarbeiten, dass sie akzeptiert wird. Ausserdem müssen sie die Beschädigung ihrer eigenen Identität angesichts ständig möglicher Abwertungen in Grenzen halten. Diese Aufgabe wird als innere Tätigkeit "zwischen beruflichem Auftrag und sich selbst sein" beschrieben.

Erfolgserlebnisse
Der Heimalltag wartet nicht nur mit hohen emotionalen Belastungen auf, er bietet auch Erfolgserlebnisse durch positive Rückmeldungen von Betroffenen. "Resonanz zu finden bei anderen, scheint eine wichtige Energiequelle zu sein", folgert A. Wigger. Beziehungsarbeit wird so zur Quelle von Bestätigung. Sie mach den Beruf letztlich attraktiv.

Von den SozialpädagogInnen selbst werden die neuen professionellen Begriffe einhellig begrüsst, wie die Rückmeldungen auf die Präsentation der Forschungsarbeit vor insgesamt 130 Fachleuten aus der Praxis zeigen. Sie machen sichtbar, was bei der stationären Arbeit zu leisten ist und welche unterschiedlichen Anforderungen an die SozialpädagogInnen in diesem Arbeitsfeld gestellt werden, das gerne in der Nähe der privaten Familien- und Hausarbeit gerückt wird. A. Wigger: "Im Unterschied zum privaten Bereich benötigen wir für die Inszenierung stellvertretender Lebensräume gut ausgebildete ExpertInnen, die als AllrounderInnen mit den Betroffenen den Alltag gestalten."


Auszug aus der Forschungsarbeit von J. Spirig im Gespräch mit Annegret Wigger, FHS St. Gallen - vorgestellt an der Tagung des Heimleiterverbandes in Münsterlingen/TG, 2004.
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